Tilt & Shift-Objektive (TSO)

Weitere Seiten auf www.ArsTechnica.de zu diesem Artikel: [Technische Daten der Canon TS-E-Objektive]
Bilder: [Shift in Stufen (Slideshow)] · [Beispiel Tilt-Funktion] · [Unterschiede in der Belichtung] · [Verzeichnung]


In dem folgenden Artikel möchte ich meine Erfahrungen mit einem Canon TS-E 24 Objektiv beschreiben, welches mir mein freundlicher Fotofachhändler für ein langes Wochenende und einen Test an meiner EOS 350D zur Verfügung gestellt hat.

Der Hintergrund

Unser Gehirn baut uns ein Bild von dieser Welt auf und bei dieser Gelegenheit retuschiert es besser und schneller als jedes Bildverarbeitungsprogramm: Wir sehen das schöne mittelalterliche Bauwerk, aber den Baum in der Sichtlinie entfernt das Gehirn in unserer Wahrnehmung wie in unserer Erinnerung. Auch mit perspektivischen Verzerrungen oder unterschiedlichen Schärfebereichen kann es umgehen, sie eliminieren und uns ein harmonisches Bild der Welt geben.

Leider kann eine Kamera, die nur den Gesetzen der Optik und Mechanik verpflichtet ist, so etwas nicht leisten. Um Abbildungen der Wirklichkeit zu erhalten, die immer mehr unseren inneren Vorstellungen entsprechen, haben die Hersteller von Kameras eine Reihe Einfällen umgesetzt. Mit Balgenkameras kann man beispielsweise die Objektiv- und/oder Filmstandarte (die Träger von Objektiv und Film) kippen, um die Ebene der Schärfe zu verändern. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, das Objektiv gegenüber der Kamera parallel zu verschieben, um perspektivische Verzerrungen zu kompensieren.

Einige Anbieter haben Balgengeräte für Kleinbildkameras im Angebot, um diese Effekte zu erzielen und wenige Hersteller von Kleinbildkameras bieten spezielle Tilt- und Shift-Objektive (im folgenden kurz TSO genannt) an.

Tilt Funktion (Verschwenken)

Verschwenktes Objektiv bei der Tilt Funktion

Bei der Tilt-Funktion kippt man einen Teil des Objektivs ab, seine optische Achse wird also geknickt. Physikalischer Hintergrund ist die Scheimpflugsche Regel (siehe Wikipedia-Artikel), nach der man die Schärfeebene (siehe Bild rechts) verlegen kann. Ein normales Objektiv ist so gebaut, dass beim Fotografieren die Ebene scharf erscheint, die parallel zur Filmebene bzw. dem Sensor liegt. Will man also einen flächigen Gegenstand, z.B. eine Halskette, überall scharf abbilden, dann legt man sie auf einen Tisch und fotografiert senkrecht von oben und genau in die Mitte der Kette hinein, damit im Bild möglichst alles scharf erscheint.

Manchmal kann man aber keinen geeigneten Standort einnehmen, um das Objekt perfekt zu fotografieren, z.B. wenn sich das Objekt in der Glasvitrine eines Museums befindet. Vielleicht möchte der Fotograf auch einen eckigen Gegenstand bewußt aus einer schrägen Perspektive zeigen, um mehrere Seiten des Objektes gleichzeitig im Bild wiederzugeben. Die klassische Methode ist abblenden, denn bei einer großen Blendenzahl (=kleine Öffnung) wächst die Schärfentiefe/Tiefenschärfe und ein größerer Teil des Objektes wird scharf abgebildet. Der Nachteil einer kleinen Blende ist, dass die Belichtungszeit länger wird (erhöht die Gefahr des Verwackelns/Verreißens), dass sich speziell bei Digitalkameras eventueller Schmutz auf dem Sensor bemerkbar macht und dass der Schärfebereich immer noch nicht reichen könnte.

Ein Ausweg besteht im Verschwenken (Knicken) des Objektivs. Dadurch kann ohne weiteres ein größerer Schärfebereich erreicht werden, weil die Schärfeebene nicht mehr parallel zur Film-/Sensorebene ist, sondern weil sie schräg im Raum liegen kann und dem Objekt angepasst wird.

Dazu denkt man sich je eine Ebene für den Sensor/Film, eine für das Objektiv und eine für die Ebene des Objekts, die scharf abgebildet werden soll. Wenn sich alle Ebenen (rot, hier von der Seite betrachtet) in einem Punkt (0) schneiden, ist die Ebene des Objekts scharf.

Shift-Funktion (Verschieben)

Shift-Funktion

Besonders bei Panoramaaufnahmen von Bauwerken mit normalen Objektiven fällt auf, dass gerade Linien auf den Bildern perspektivisch verzerrt werden. Das Parallelverschieben der optischen Achse (shiften, siehe Bild) erlaubt es nun, durch das Objektiv Verzerrungen zu erzeugen, die bei geeigneter Einstellung die perspektivische Verzerrung des Objektes mildert oder ganz aufhebt. Dabei ergeben sich viele Anwendungsmöglichkeiten:

Mit dieser Art der Perspektivkorrektur kann nicht jedes Problem behoben werden: Wer sich seitlich zu einem geraden Tunnel stellt, und das Ende nicht mehr sehen kann, wird es auch durch Parallelverschiebung des Objektivs das Ende nicht sichtbar machen können. Hier hilft nur eine Änderung des Standortes. Lediglich der perspektivischen Verzerrung kann man entgegenwirken.

Die Shift-Funktion läßt sich in der analogen Fotografie auch beim Vergrößern in der Dunkelkammer erreichen, in dem man das Fotopapier und das Negativ verschwenkt. Ein vergleichbarer Effekt wird bei aktuellen Beamern genutzt, die teilweise elektronisch, teilweise aber auch durch die Verschiebung der Linsen eine Trapezkorrektur durchführen. Falls der Beamer schräg nach oben oder nach unten projiziert, kann so die trapezförmige Verzerrung beseitigt werden.

Erfahrungen

Meine ersten Erfahrungen mit der Kombination aus EOS 350D und TS-E 24 sind ein wenig durchwachsen. Ich führe das vor allem darauf zurück, dass die EOS 350D nicht wirklich für dieses Objektiv geeignet ist:

Die TS-E-Objektive kosten im Vergleich zur 350D je nach Straßenpreis etwa 60-120% mehr als die Kamera, so dass eine Kamera mit besseren technischen Voraussetzungen (hellerer Sucher, wechselbare Mattscheibe) durchaus bessere Ergebnisse liefern sollte.

Alternativen zu TSO

TSO sind sehr teuer, weil sie vermutlich selten verkauft werden, mechanisch erheblich aufwändiger sind und optisch einen größeren Bildkreis liefern müssen als eine normale Festbrennweite vergleichbarer Qualität. Der Preis macht es für den Fotografen auch schwer, mehrere TSO in unterschiedlichen Brennweiten vorzuhalten, ganz abgesehen davon, dass man Spezialwünsche, wie höhere Lichtstärke, Makrotauglichkeit oder Autofokusfunktion, als TSO nicht einmal kaufen kann. Da stellt sich die Frage, ob man die Wirkung der Tilt- und Shift-Funktionen nicht auf andere Weise erzeugen kann?

Elektronische Bildverarbeitung (EBV)

Software ist hier natürlich die erste Alternative. Nur die wenigsten Grafik-Programme sind so teuer wie ein TSO.

Shift-Funktion: Funktionen zur Perspektivkorrektur sind in jeder elektronischen Bildverarbeitung (EBV) enthalten, so dass der Ausgleich stürzender Linien ohne weiteres auch über die EBV geht. Die EBV kann auf jedes Bild angewendet werden, der Fotograf hat also die Auswahl zwischen jedem denkbaren Normal- und Spezialobjektiv (Makro, Weitwinkel, Lupenobjektiv usw.) und kann es hinterher mit der EBV verbessern. Qualitätsverluste entstehen zwar nominell durch die Bearbeitung der Grafikdatei, aber es wird wohl kaum sichtbar werden. Wer allerdings shiftet, um durch Standortverlagerung ein spiegelndes Objekt seitlich aufzunehmen oder ein Hindernis in der Sichtlinie zu umgehen, der muss in der EBV retuschieren und deshalb deutlich länger arbeiten, um vergleichbare Wirkungen zu erzielen.

Tilt-Funktion: Um einen vergleichbaren Effekt wie beim Tilten zu erreichen, müssen Bilder in der EBV aus mehreren scharfen Bildern zusammengesetzt werden. Hier kommt DFF-Software (Deep Focus Fusion) zum Einsatz. Wenn der Schärfebereich in einer Ebene (also im 2D Bereich) liegt, schaft das Tilten dies mit einem Foto bei voller Kontrolle im Sucher. Bei 3D Objekten, z.B. bei der scharfen Abbildung einer Walnuß in voller Tiefe kommt man auch mit Tilten nicht mehr weiter, hier mehrere Aufnahmen mit unterschiedlichen Schärfebereichen zusammengesetzt werden, z.B. mit Combine ZM.
Wer dagegen die Tilt-Funktion nutzen möchte, um den Schärfebereich zusätzlich einzuengen (soll manchmal von Portraitfotografen so gewünscht sein), der kann auch hier mit einem normalen Objektiv und der EBV einfach ein TSO ersetzen und Geld sparen.

Die technische Zukunft?

TSO's für Kleinbildkameras sind entstanden, als dieser Kameratyp nur auf Filmen aufnehmen konnten. Tilten und Shiften verlangte ein spezielles Objektiv, denn die Art des Filmtransportes und die Führung des Filmes gaben bestimmte Möglichkeiten bei der Optik und Mechanik vor. Bei Digitalkameras gelten viele dieser Restriktionen nicht mehr und die ersten Hersteller durchbrechen diese Schranken der analogen Zeit. So kommen aus der analogen Welt die Objektive mit Bildstabilisierung (bei Canon sind es die IS-Objektive), bei der die Optik dem Verwackeln des Fotografen entgegenwirkt und kleinere Blendenöffnungen durch längere Belichtungszeiten ermöglicht.

Im digitalen Bereich setzen einige Hersteller auf eine andere Methode der Bildstabilisierung, bei der der Sensor bewegt wird.

Ein Vorteil liegt auf der Hand: Da das Entwackeln aus dem Objektiv in die Kamera verlegt wurde, profitiert jedes Objektiv davon und umgekehrt belastet diese Funktionalität nicht mehr den Preis des Objektivs. Dafür sieht man die Wirkung der Bildstabilisierung nicht mehr durch das Objektiv.

Prinzipiell lässt sich diese Methode weiterentwickeln und auch das Shiften durch eine Verschiebung des Sensors erreichen. Da das Objektiv einer solchen Kamera (wie beim TSO) einen größeren Bildkreis haben sollte, wären Kompaktkameras der Oberklasse vermutlich die geeignetsten Kandidaten für eine solche technische Entwicklung, da sie mit ihren Objektiven fest verbunden bleiben und entsprechend konstruiert werden können. Bei den digitalen Spiegelreflexkameras ist der Bildkreis vieler Objektive auf 24 × 36 mm² ausgelegt, so die Kombination aus kleineren Sensoren und Objektiven für das Vollformat eine geeignete Basis bilden könnte. Zusätzlich sollte der Sucher die Wirkung des geshifteten Sensors darstellen können, aber der elektronische Sucher wird bereits diskutiert.

Das Tilten lässt sich durch Kippen des Sensors bewerkstelligen. Ein Tiltwinkel von ±9° Grad würden bei einem um die Mitte der langen (36 mm) Seite gekippten Sensor bedeuten, dass er an den Kanten ca. ±2,9 mm nach vorne und hinten bewegbar sein muss. Der Autofokus würde auch hier die Kompaktkamera begünstigen, da er durch Fokussierung über den Hauptsensor schon vor dem Auslösen die geeignete Scharfstellung finden und zeigen könnte.

Fazit

Obwohl ich in diesem Anwendungsfall mit dem TS-E 24 nicht zufrieden war, halte ich es aus mehreren Gründen für ein interessantes und vorteilhaftes Objektiv:

Das TS-E 24 bietet viel Potential, um Aufnahmen noch besser zu machen. Aber es verlangt auch sehr viel Mitwirkung von seinem Fotografen. In Verbindung mit der 350D ist es nicht das Objektiv, mit dem man eine Urlaubsreise macht und die fremdländische Architektur in der üblichen Arbeitsgeschwindigkeit ablichtet. Der erhöhte Aufwand ist die notwendige Gegenleistung für die Möglichkeiten, die das Objektiv bietet. Man muss hier ganz klar festhalten: Im Gegensatz zu einer EBV versucht man mehr und qualitativ bessere Informationen vom Motiv einzufangen, statt nachträglich gedachte Informationen hinzuzufügen.

In der Praxis entscheidet wohl der Arbeitsablauf und die Spezialisierung des Fotografen, ob sich für ihn ein TSO lohnt. Die Korrekturen mit Tilt und Shift lassen sich auf keine andere Art so schnell durchführen und dann auch noch im Sucher überprüfen. Das Bild wird auch nicht von Rechenalgorithmen verändert, so dass bei der Arbeit ein Zeit- und Qualitätsvorteil durch ein TS-E entsteht. Bei extremen Objekten, die auch das TS-E nicht ausreichend begradigen kann, liefert es der EBV eine bessere Vorlage, als das ein Normalobjektiv tun könnte.

Für den gelegentlichen Nutzer ist die zusätzliche Zeit mit der EBV billiger, als ein TS-E zu kaufen.

Links